Um die Rate an Neuralrohrdefekten bei Neugeborenen zu senken, werden bereits in 81 Ländern Grundnahrungsmittel mit Folsäure angereichert (1). Trotz der nachgewiesenen Erfolge findet die Anreicherung in Deutschland keine Zustimmung der Behörden. Im Jahr 2017 veröffentlichte das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) eine Stellungnahme zum Thema und kommt zu der Auffassung, dass es aufgrund von möglichen Risiken nicht empfehlenswert sei, Lebensmittel zusätzlich anzureichern (2). Prof. Dr. Rima Obeid, Universitätsklinikum des Saarlandes, und Prof. Dr. Klaus Pietrzik, Universität Bonn, (beide vom Arbeitskreis Folsäure & Gesundheit) kritisieren diese Stellungnahme als unzureichend. „Die Argumentation des BfR ist einseitig und offensichtlich verzerrt“, betont Obeid. „Mit einer ausreichenden Folsäureversorgung könnte etwa die Hälfte aller Neuralrohrdefekte und möglicherweise andere angeborene Anomalien deutlich reduziert werden. Diesem Aspekt wurde in der Stellungnahme des BFR nicht ausreichend Rechnung getragen.“ (3)
Folat vorbeugend einsetzen
Pro Jahr sind in Deutschland etwa 1.000 Kinder von Neuralrohrdefekten betroffen. Das Neuralrohr bildet sich bereits in den ersten Schwangerschaftswochen. Daher sollten Frauen bereits ab Kinderwunsch pro Tag 0,4 mg Folat (z.B. Folsäure) zusätzlich zu der gewöhnten Ernährung zu sich nehmen, um zum Zeitpunkt der Empfängnis ausreichend versorgt zu sein (4). „Die Erfahrung zeigt jedoch, dass die Mehrheit der Frauen (> 70%) in dieser kritischen Phase nicht genügend Folat aufnimmt, weder über die Nahrung noch über Nahrungsergänzungsmittel“, erklärt der Ernährungswissenschaftler Pietrzik. „Außerdem gibt es immer noch eine hohe Zahl von ungeplanten Schwangerschaften (ca. 50%). Um diese Frauen zu erreichen, wäre es sinnvoll, Grundnahrungsmittel mit Folsäure anzureichern.“ Dies empfiehlt auch die internationale Gesellschaft für Teratologie (5). Im Sommer 2017 schloss sich der wissenschaftlich beratende Ausschuss für Ernährung in Großbritannien dieser Empfehlung an (6).
Einschätzung des BfR zweifelhaft
Das BfR befürchtet eine Überschreitung der Unbedenklichkeitsgrenze für Folsäure von 1 mg pro Tag. Nehmen Patienten mit ausgeprägtem Vitamin B12 Mangel gleichzeitig zu große Mengen an Folsäure auf, bleibt der Mangel eventuell unerkannt. Über eine Maskierung der Vitamin B12 Mangel-Anämie wurde erst bei einer längerfristigen und relativ hohen Folsäuregabe von mehr als 5 mg am Tag berichtet (7,8).
Die Auffassung, dass das Krebsrisiko höher ist, wenn Menschen zu viel Folsäure einnehmen, wird kontrovers diskutiert. Die negativen Berichte beziehen sich auf Tierversuche mit sehr hohen Folsäure-Mengen. Oder aber, es handelt sich lediglich um Assoziationen aus klinischen Studien. Aus diesen Assoziationen lässt sich jedoch keine Kausalität ableiten. Prof. Pietrzik teilt diese Auffassung und erklärt: „Ein kausaler Zusammenhang zwischen Vitaminen und Krebs ist zweifelhaft und immer noch hoch umstritten. Die seit Jahrzehnten praktizierte Anreicherung mit Folsäure (in den USA seit 1998) zeigt eine effektive Wirkung in der Prävention und keine unerwünschte Wirkung auf Populationsebene. Demgegenüber stehen ganz klare Vorteile für die gesamte Bevölkerung.“ Neben den Vorteilen für die Entwicklung des ungeborenen Kindes, können durch angereicherte Lebensmittel die Folat-Mangel-Zustände beseitigt und auch das Schlaganfallrisiko gesenkt werden (9).
Methodische Mängel
Die Autoren kritisieren, dass das BfR für dessen Stellungnahme eine selektive und unvollständige Literaturrecherche durchgeführt habe: „Das entspricht nicht den Kriterien, die für eine solche Bewertung vorgeschrieben sind“, bemängelt Prof. Obeid „Die wichtige ethische Frage, ob wir schwere Behinderungen bei Kindern mit einer Lebensmittelanreicherung, die auch gleichzeitig kostengünstig ist, verhindern sollen, blieb gänzlich unbeachtet.“ Die Autoren und der AK Folsäure und Gesundheit empfehlen daher, dass vorhandene Studien neu und anhand definierter Qualitätskriterien bewertet werden.
Zeichen mit Leerzeichen: 4.018
*Folat und Folsäure: Die verschiedenen folatwirksamen Verbindungen in Lebensmitteln bezeichnen Experten mit dem Sammelbegriff Folat(e). Folsäure ist die synthetische Form, die bei der Anreicherung von Lebensmitteln zugesetzt wird oder in Supplementen enthalten ist. Dabei handelt es sich um ein Provitamin, das im Körper erst durch metabolische Prozesse zu den bioaktiven Folat-Formen umgewandelt werden muss.
Quellen:
- Food Fortification Initiative (2018): Country Profiles for Grain Fortification. Online unter: http://www.ffinetwork.org/ country_profiles/index.php; Letzter Aufruf 24.9.2018.
- Bundesinstitut für Risikobewertung (2017): Nutzen-Risiko-Abwägung einer flächendeckenden Anreicherung von Mehl mit Folsäure. Online unter: http://www.bfr.bund.de/cm/343/nutzen-risiko-abwaegung-einer-flaechendeckenden-anreicherung-von-mehl-mit-folsaeure.pdf; Letzter Aufruf 24.9.2018.
- Obeid, R, Pietrzik, P (2018): Neuralrohrdefekte: Das Veto gegen Folsäure im Mehl sollte überdacht werden. Dtsch Arztebl; 115(27-28): A-1329 / B-1123 / C-1115. Online unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/198957/Neuralrohrdefekte-Das-Veto-gegen-Folsaeure-im-Mehl-sollte-ueberdacht-werden
- Obeid R, Pietrzik K, Oakley GP Jr, Kancherla V, Holzgreve W, Wieser S (2015): Preventable Spina Bifida and Anencephaly in Europe. Birth Defects Research (Part A): Clinical and Molecular Teratology 2015. Birth Defects Res A Clin Mol Teratol. 103(9):763-71.
- International Teratology Society (1997): Teratology Society Consensus Statement on Use of Folic Acid to Reduce the Risk of Birth Defects. Online unter: https://www.teratology.org/pubs /folicacid.pdf; Letzter Aufruf 24.9.2018.
- Scientifc Advisory Committe on Nutrition (2017): Update on folic acid. https://assets.publishing.service.gov.uk/government/ uploads/system/uploads/attachment_data/file/637111/SACN_Update_on_folic_acid.pdf; Letzter Aufruf 28.06 2018.
- Wald NJ, Morris JK, Blakemore C (2018): Public health failure in the prevention of neural tube defects: time to abandon the tolerable upper intake level of folate. Public Health Rev; 39:2.
- US Institute of Medicine Standing Committee on the Scientific Evaluation of Dietary Reference Intakes and its Panel on Folate, Other B Vitamins, and Choline (1998): Dietary Reference Intakes for Thiamin, Riboflavin, Niacin, Vitamin B6, Folate, Vitamin B12, Pantothenic Acid, Biotin, and Choline. Chapter 8: Folate. Washington D.C., National Academies Press; 196–305.
- Jenkins DJA, Spence JD, Giovannucci EL, et al. (2018): Supplemental Vitamins and Minerals for CVD Prevention and Treatment. J Am Coll Cardiol; 71:2570–84.
Abdruck honorarfrei / Beleg erbeten